Samstag, 24. Januar 2009
 
Droht Bürgerkrieg in Bolivien? PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Almut Schilling-Vacaflor   
Dienstag, 16. Januar 2007

Die Ausschreitungen in Cochabamba-Bolivien zwischen dem vergangenen 8. und dem 12. Jänner spiegeln die großen, fast unüberwindbar erscheinenden, Divergenzen und Differenzen in der bolivianischen Gesellschaft wider.

Offiziell ging es bei den aktuellen gewalttätigen Kämpfen in Cochabamba, bei welchen über zweihundert Menschen verletzt und zwei Menschen getötet wurden, um eine umstrittene Entscheidung des Präfekten Manfred Reyes Villa und als Reaktion darauf die Forderung seines Rücktrittes seitens der hauptsächlich indigenen und ländlichen Bevölkerung. Reyes Villa forderte ein erneutes Referendum über die Autonomie von Cochabamba, obwohl dieses bereits im Juli 2006 durchgeführt wurde und sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Autonomie des Bundeslandes aussprach. Die blutigen Kämpfe wurden daraufhin vor allem zwischen Anhängern des "Comité Cívicos" (=Bürgerkomitees) von Cochabamba und tendenziell aus der Oberschicht stammenden StadtbewohnerInnen mit indigenen bzw. ländlichen Gewerkschaften und Organisationen ausgetragen. Diese und andere aktuelle Auseinandersetzungen spiegeln auch die großen Spannungen und das hohe Konfliktpotential zwischen den Anhängern Evo Morales und der Opposition und zwischen dem bolivianischen Hoch- und Tiefland Boliviens wieder.

Auch aufgrund dieses hohen Konfliktpotentials wird die Gefahr eines Bürgerkrieges in Bolivien als nicht unwahrscheinlich eingestuft. Einer argentinischen Arbeitsgruppe zufolge, welche eine Studie im Auftrag des argentinischen Außenministeriums - nach einer Methode die von zahlreichen US-amerikanischen Unternehmen verwendet wird - durchführte (die am 21. September 2006 veröffentlicht wurde), liegt die Wahrscheinlichkeit eines Bürgerkriegs in Bolivien bei 56%. Abgesehen davon, dass es mir problematisch erscheint, die Gefahr eines Bürgerkrieges in Prozentzahlen auszudrücken, sollte man sich auch die Frage stellen, inwiefern diesen Interpretationen und Prognosen vertraut werden kann bzw. inwiefern die derzeitigen Konflikte und Auseinandersetzungen eine Begleiterscheinung der Umstrukturierungen und Reformen des bolivianischen Staats und der bolivianischen Gesellschaft sein können, die zu einer stabileren Nation mit mehr sozialer Gleichheit führen können. Auf jeden Fall sollten die heftigen Ausschreitungen und Spannungen in Bolivien ernst genommen und mit hoher Sensibilität beobachtet und analysiert werden, auch um abschätzen zu können in welche Richtung die Dynamiken führen.

Die Anhänger Evo Morales stammen hauptsächlich aus dem Hochland Boliviens, wo die große Bevölkerungsmehrheit indigen ist. Im Tiefland hingegen ist die Opposition von Morales dominant und viele mächtige und in der Öffentlichkeit präsente Stimmen richten sich dort gegen ihn. Eine wichtige Rolle in diesem Konflikt spielen auch die natürlichen Ressourcen, vor allem Erdgas und Erdöl, die fast ausschließlich in den vier Bundesländern des Tieflandes - Tarija, Santa Cruz, Beni und Pando - aufzufinden sind. Dieser Reichtum und auch die höhere Industrialisierung und das größere Wirtschaftswachstum der Tieflandregionen tragen zu den Abspaltungstendenzen dieser Bundesländer bei, welche sich in den Autonomiebestrebungen dieser Gebiete und in radikaleren Versionen wie z.B. der Bewegung "Nación Camba", welche die Gründung einer unabhängigen Tieflandnation fordert, ausdrücken. Diese separatistischen Tendenzen werden zum Teil auch von internationalen Akteuren wie zum Beispiel von transnationalen Unternehmen, privaten Investoren und von PolitikerInnen verschiedenster europäischer und US-amerikanischer Länder unterstützt und verstärkt. Es ist äußerst wahrscheinlich, dass internationale Strategien und Einflüsse eine wichtige Rolle in den bolivianischen Prozessen und Konflikten spielen, jedoch ist es schwierig diese nachzuweisen, da es hauptsächlich Spekulationen und Theorien darüber gibt, aber keine handfesten Beweise.

Im Frühjahr 2006 bei den Parlamentsverhandlungen stimmten die PolitikerInnen der Opposition von Evo Morales der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung nur unter der Bedingung zu, dass gleichzeitig zur Wahl der Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung eine verbindliche Volksabstimmung über die Autonomien der einzelnen Bundesländer durchgeführt wird. Bei dieser am 2. Juli 2006 durchgeführten Abstimmung, sprachen sich genau die Gebiete des Tieflandes (Tarija, Santa Cruz, Beni und Pando) mit großer Mehrheit für die Autonomien aus, während die anderen Bundesländer (Cochabamba, Chuquisaca, La Paz, Potosi und Oruro) sich gegen die Autonomie ihrer Bundesländer entschieden. Bei dieser Entscheidung spielten auch strategische Gründe eine Rolle, wie beispielsweise die erhoffte höhere juridische Sicherheit durch die Unabhängigkeit vom instabilen und armen Hochland (was vor allem ausländische Investoren anziehen soll) und der Wunsch nach höherer Kontrolle und größerem  Gewinnanteil bei Exporten.

Allerdings gibt es nicht nur wirtschaftliche Gründe für die derzeitigen Konflikte und Abspaltungstendenzen, sondern es treffen auch verschiedene Wertvorstellungen und Weltverständnisse aufeinander. Die Partei von Morales, das MAS (Movimiento Al Socialismo), arbeitet eng mit indigenen Organisationen und bäuerlichen Gewerkschaften des Landes zusammen und hat es zum Ziel erklärt, den bolivianischen Staat zu "indianisieren" und zu "dekolonialisieren". Das beinhaltet sowohl Umverteilungsmaßnahmen, die für die Elite der Tieflandregion (beispielsweise für Großgrundbesitzer) zum Teil große Einbussen bedeuten kann, als auch Programme zur Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme.

Indigene Elemente und Systeme sollen anerkannt werden und in staatlichen Institutionen verankert und integriert werden. Diese Forderungen kommen auch daher, dass der bolivianische Staat bisher ein stark monokulturelles System nach westlichem Vorbild realisiert hat, wodurch die indigene Bevölkerungsmehrheit diskriminiert wurde und es immer stärkere Prozesse der Desartikulation zwischen dem bolivianischen Staat und vielen Sektoren der Gesellschaft gab. Dadurch wurde auch die Legitimität des bestehenden Systems immer stärker in Frage gestellt und es kam in den letzten Jahren mehrfach zu Situationen der Instabilität, zu Stürzen von Präsidenten und zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und sozialen Bewegungen. Daher wurde die Veränderung des hegemoniell-westlichen Systems unabdinglich, auch als Strategie, um den sozialen Frieden im Land wiederherzustellen.

Für einen Grossteil der reichen Oberschicht, die sich meist der westlichen Kultur zugehörig fühlt, sind so genannte "Indianisierungsprozesse" allerdings stark negativ besetzt und stoßen auf wenig Verständnis in diesen Bevölkerungsgruppen. Jedoch ist die Einsicht der Notwendigkeit und Legitimität solcher Maßnahmen im Hochland Boliviens größer, unter anderem, da die indigene Präsenz in diesen Gebieten so stark ist und diese die Bevölkerungsmehrheit darstellen. Im Gegensatz dazu stellt die indigene Bevölkerung im Tiefland Boliviens tendenziell  eine Minderheit dar, was auch ein Grund dafür ist, dass es in diesen Gegenden weniger Verständnis für tief greifende Änderungen des Staatsmodells gibt (bzw. ist ein Großteil der indigenen Bevölkerung des Tieflandes aus dem Hochland immigriert, weshalb deren Forderungen nicht so große historische Legitimität aufweisen).

Der Regierung von Morales wird von vielen KritkerInnen vorgeworfen, dass seine Politik zu "andino-zentristisch" ist, also zu sehr auf den andinen Raum fokussiert ist, während sich viele TieflandbewohnerInnen und zum Teil auch die "oberen Schichten" der Bevölkerung im Hochland davon ausgeschlossen fühlen. Daher können die Abspaltungstendenzen des Tieflandes auch als Reaktion auf die Machtergreifung von Evo Morales betrachtet werden, sozusagen als Versuch, wenigstens in ihren Gebieten ihre Macht und ihren Einfluß aufrecht zu erhalten. Dabei spielen auch Vorurteile und unterschiedliche Wertvorstellungen eine wichtige Rolle: Von den indigenen Organisationen des Landes werden die Organisationen des Tieflandes wie z.B. die Comités Cívicos und die "weiße" Oberschicht des Landes generell als Feinde betrachtet, die sie ausbeuten und ihnen ihre Lebensgrundlage nicht zugestehen wollen. Im Gegensatz dazu ist das Feindbild der Indigenen als primitive, ungebildete und gewalttätige Bevölkerungsgruppe im Tiefland und in der bolivianischen Oberschicht sehr weit verbreitet. Gewalttätige Angriffe und gegenseitige Beleidigungen treten derzeit vermehrt auf und sind ein Ausdruck der Konflikte und Feindbilder zwischen diesen Bevölkerungsgruppen.

Die unterschiedlichen Zuschreibungen und Wertvorstellungen drücken sich auch darin aus, dass indigene Führungspersonen, wie z.B. MinisterInnen oder die Direktorin der verfassunggebenden Versammlung Silvia Lazarte, von der Opposition nicht anerkannt werden. Als Gründe dafür wird häufig angegeben, dass diese Personen "nicht sprechen können" (oft sprechen sie nicht korrekt Spanisch, da sie indigene Muttersprachen haben) und nicht gut ausgebildet sind (häufig kommen sie aus sozialen Bewegungen und Gewerkschaften und haben zum Teil keine universitären Abschlüsse).

Die große Distanz und die fehlende Fähigkeit bzw. Möglichkeit, zwischen diesen heterogenen Bevölkerungsgruppen, mit derart unterschiedlichen Identitäten und Interessen, Konsensentscheidungen zu treffen bzw. Kompromisse zu schließen, drückt sich auch darin aus, dass die verfassungsgebende Versammlung immer noch nicht arbeitsfähig ist. Seit ihrem offiziellen Arbeitsbeginn am 6. August 2006 ist es immer noch nicht gelungen, sich über die generellen Reglamentierungen zu einigen und auf die inhaltliche Arbeit in Kommissionen überzugehen.

Bei dem derzeitigen Stand der Dinge ist es äußerst schwierig, sich vorzustellen, wie der Schritt zu einem nationalen Zusammenhalt, mit gegenseitiger Anerkennung und konstruktiver Zusammenarbeit gelingen kann. Viele Intellektuelle Boliviens sind der Meinung, dass eine gemeinsame nationale Ideologie geschaffen werden müsste, mit der sich sowohl die Hoch- als auch die TieflandbewohnerInnen identifizieren, um langfristig ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Wie diese unter den aktuellen Umständen ausschauen könnte steht noch offen, und die derzeitigen Konflikte und Spannungen können auch als brisante Aushandlungsprozesse um die Schaffung eines "neuen Bolivien" und einer bolivianischen Identität betrachtet werden, wobei der Ausgang dieser Prozesse noch ungewiss ist.
 

Almut Schilling-Vacaflor ist Doktoratsstudentin der Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und Mitarbeiterin der Informationsgruppe Lateinamerika.

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